Am 27.Mai 1998 erlebte ich in der Zeche in Bochum ein Konzert, das bis heute zu einem meiner wichtigsten musikalischen Live-Eindrücke gehört. Theatre of Tragedy auf ihrer gemeinsamen Tour mit Atrocity. Beide Bands liebe ich bis heute. Vor allem aber, bin ich seit diesen Tag Liv Kristines Stimme verfallen und habe seitdem kein musikalisches Werk der gebürtig norwegischen Künstlerin verpasst. Das neue Soloalbum „Vervain“ ist ein tolles Album geworden und lässt alte Gothic-Rock-Zeiten wieder in neuem Glanz erstrahlen. Klar, dass ich mega happy war als Liv einem Interview zustimmte. Hier das ganze Interview, in dem Liv sehr ausführlich und offen schreibt. Damit geht auch für mich ein kleiner Traum in Erfüllung. Vielen Dank dafür an Liv Kristine und unseren Lesern viel Spaß beim lesen.
In einem alten Bericht des Metalhammer habe ich gelesen, dass Du bereits 1996 Deine Heimat in Norwegen verlassen hast und nach Deutschland ausgewandert bist. Seitdem ist ja in Sachen Familie und auch auf Deinem musikalischen Weg viel passiert. Darf ich Dich fragen, was deine ersten Erinnerungen an Deutschland sind?
Ja, das stimmt. 1996/1997 bin ich von Stavanger nach Steinheim an der Murr gezogen, mit zwei Koffern. Meinen Duden hatte ich selbstverständlich dabei, da ich an der Stavanger Uni schon für das Hauptfach Germanistik angenommen worden war. Ich unterbrach mein Studium dort und ließ mich in Stuttgart immatrikulieren, für Germanistik und Anglistik. Ich war bis über beide Ohren frisch verliebt, sehr gespannt und höchst motiviert – es war eine wunderschöne Zeit. Es war im Oktober, während der Weinlese und ich fand den Herbst so unglaublich mild (im Vergleich zu dem Sauwetter in Norwegen) und bunt. Alex ließ mich eine Woche lang mit seinem silbernen Opel Ascona herumfahren, um die schwäbische Vielfalt zu erforschen, vor allem war es wichtig, die Autobahn kennenzulernen. In Norwegen fahren wir nicht schneller als 90 km/h. Außerdem hatte ich einiges Bürokratisches zu erledigen, vor allem beim Ausländeramt. In Marbach am Neckar entdeckte ich Frau Rapps kleinen Reformhausladen, in dem ich seitdem regelmäßig meine vegetarisch-veganen Sachen einkaufe. Das Mineralbad Leuze, die vielen historischen Gegenden, Klöster und Weinberge – alles war sehr aufregend für mich. Ich lernte, sophistikiert und genussvoll den guten Wein (Lemberger-Trollinger, versteht sich) zu trinken (es ist ja bekannt, wie die Skandinavier feiern). Durch die vielen neuen Eindrücke lernte ich sehr schnell Deutsch. Nach sechs Monaten habe ich mit Alex Schwäbisch „geschwätzt“. Meine Freundin Katja, die ich damals durch Freunde der Rofa Ludwigsburg kennenlernte, ist immer noch meine beste Freundin.
In wie weit hat Dich Deine neue Heimat auch musikalisch geprägt oder beeinflusst – von der langjährigen Zusammenarbeit mit Alexander Krull einmal abgesehen?
Sehr schnell habe ich gespürt, wie viele Fans Theatre of Tragedy in Deutschland hatte. Unsere Touren fanden zum größten Teil in Deutschland statt. Die Presse und unsere damalige Plattenfirma haben ordentlich Gas gegeben. Alex hat mich immer voll und ganz in allem unterstützt, in den Zeiten mit Theatre of Tragedy, als Solokünstlerin und natürlich mit der gemeinsamen Idee von Leaves‘ Eyes. Ich war auch viel unterwegs mit Atrocity und ich durfte mich auf der Werk 80 ordentlich austoben.
Wenn man solange so eng mit seinem Ehepartner auch auf beruflicher Ebene zusammenarbeitet wie Ihr beiden, wie schafft man es da eigentlich, gerade auch musikalisch die gemeinsame Kreativität zu behalten? Gibt es eine gemeinsame Inspiration und wenn ja welche? Oder findet jeder seine Inspiration in unterschiedlichen Dingen?
Alex und ich sind einfach ein unschlagbares Team, wir ergänzen uns in allem. Manchmal stehe ich auf, wenn er gerade aus dem Studio kommt (und zwar um 06:00 Uhr), das heißt aber, das bei uns immer kreativer Betrieb ist. Wir geben immer Vollgas und beraten und unterstützen uns gegenseitig wo und wie es nur möglich ist. Die gemeinsame Inspiration ist vor allem unsere kleine Familie und unsere Großfamilie, nämlich unsere Freunde und Fans, und das Komponieren und Aufnehmen in unserem eigenen Mastersound-Studio. Wir ergänzen uns optimal, auch wenn wir sehr unterschiedlich sind. Es fängt schon damit an, dass ich 1,67 m „klein/groß“ bin und er 1,95 m groß ist. Alex trinkt z.B. gar keinen Alkohol, während ich Weinproben und Brauereibesuche liebe. Alex muss nicht unbedingt Yoga machen, vegane Kochbücher verschlingen, um 06:30 Uhr durch den Wald joggen oder jeden Freitag in die Sauna gehen und ich muss nicht „The Walking Dead“ angucken, zu Lamb of God einschlafen oder Mischpulte auseinandernehmen, aber er liebt das ganze Paket „Liv“ so wie ich auch ihn liebe und respektiere. Wir haben noch sehr viel vor, zu zweit, zu dritt … oder zu sechst mit unseren wunderbaren Hunden und Katzen. Ich würde egal wo hin auf dieser Welt mit meinen Allerliebsten ziehen und wohnen, solange ich in der Natur leben darf. Seit meiner Kindheit finde ich in der Natur meine tiefste Inspiration.
Bei Deiner neuen Scheibe „Vervain“ bescheinigen Dir viele Hörer, dass Du wieder ein wenig zu Deinen Wurzeln im Gothic Rock/Metal zurückgekehrt bist. Gerade das Duett mit Michelle Darkness von End of Green erinnert an Deine Anfangszeiten mit Theatre of Tragedy. Bist Du diesen Schritt bewusst gegangen und/oder haben nostalgische Gefühle und Gedanken dabei eine Rolle gespielt oder hat es sich im Laufe des Komponierens einfach ergeben?
Du hast vollkommen recht – es hat sich jetzt genau richtig angefühlt und es war meine Intention, an die Zeiten um „Aégis“ von Theatre of Tragedy anzuknüpfen. Tosso und Alex, mein Komponisten- und Produktionsteam, haben mich voll und ganz darin unterstützt! VERVAIN ist ein back-to-the-roots Album und ist stark inspiriert von meiner Vorliebe für Doom-Metal, insbesondere Black Sabbath, sprich die Musik, mit der ich durch den musikalischen Einfluss meiner Eltern aufgewachsen bin. Ich war zudem damals noch ganz jung und durfte eine Menge Erfahrungen sammeln. Das alles, das Gespür für die Musik und die Atmosphäre, wie ich meine Stimme, Einflüsse und Know-how im Studio oder auf der Bühne umsetzen konnte und umgesetzt habe, das hat mich sehr geprägt, als Künstlerin, als Mensch und kritische Beobachterin. Seit es Theatre of Tragedy nicht mehr gibt, habe ich immer ein paar Perlen aus der Zeit auf meiner Setliste. Bei den Liedern werde ich natürlich ein wenig nostalgisch.
Wie ist die Idee zu „Love Decay“ und die Zusammenarbeit mit Michelle Darkness entstanden?
Michelle hat uns öfter mal im Mastersound-Studio besucht – auch mit End of Green – ich liebe seine Stimme! Nachdem die Aufnahmen für dieses Lied komplett waren, sagte Alex „Michelles tiefe Stimme würde perfekt als Kontrast zu Deiner passen“. Volltreffer! Michelle kam ein paar Tage später vorbei. Es ist immer super, mit ihm zu arbeiten und ich finde, er ist ein großartiger, ultra-professioneller Sänger. Immer top vorbereitet. Es hat wahnsinnig viel Spaß gemacht, mit ihm den Videoclip zum Song zu drehen. Der Clip hat so was klassisches an sich. Eine richtig traurige Liebesgeschichte. Es wäre ein großer Wunsch, „Love Decay“ live mit Michelle zu spielen.
Ich habe in meiner Rezi zu Vervain die Vermutung aufgestellt, dass Du auf Deinem langen musikalischen Weg viele Female-Voice-Sternchen hast erstrahlen, aber auch wieder verglühen sehen. Wie stolz bist Du darauf, immer noch ganz oben mitzumischen und welchen Tipp hast Du für junge Künstlerinnen, die in Deine Fußstapfen treten wollen oder besser gesagt selbst welche hinterlassen wollen?
Das ist ein tolles Kompliment! Erstens: mein Team, meine Freunde, meine Familie, unterstützen mich zu 100% auf meinem künstlerischen Weg. Zweitens: der Schlüssel zum Erfolg, vor allem auf längere Sicht, liegt in den Erfahrungen, auf der Bühne und im Studio. Die Erfahrungen musste und muss ich zwar selber machen, aber für die entstehende Zukunftsmusik brauche ich vor allem Alex und Tosso hier im Mastersound-Studio, als Songwriting- und Produktionsteam und auch als treibende Kraft und kritische Stimmen. Drittens: Halte Dich körperlich fit und gesund im Geist. Ich finde die Kraft, die ich brauche, in der Natur. Ich mache seit vielen Jahren Yoga und verbinde damit oft Rituale, die mir gut tun und mich befreien von Stress. Geist und Körper sind gestärkt und ich kann auf der Bühne Vollgas geben! Viertens: Vergiss nie, dankbar zu sein für das, was Du schon erreicht hast. Meinen Fans bin ich ewig dankbar und das zeige ich gerne!
Soweit ich weiß hast Du niemals eine klassische Gesangsausbildung genossen, sondern hast dieses Talent in die Wiege gelegt bekommen. Gibt es für Dich noch Momente, z.B. wenn Du durch die Welt tourst, in denen Du Dich kneifen musst oder möchtest, um wirklich zu glauben, wie weit Dich dieses Talent gebracht hat? Was ist Deiner Meinung nach der Schlüssel zu Deiner Erfolgsgeschichte, außer der harten Arbeit, die Du in Deine Karriere steckst. Denn dass Du sehr fleißig bist, fällt einem ja sofort auf, wenn man ein wenig Deinen Weg beobachtet.
Meine Freunde meinen wohl, ich sei irgendwie „kreativ hyperaktiv“. Die Kunst, die Musik gibt mir so viel Inspiration. Ich freue mich über jedes Konzert und jedes Album. Ich möchte mich frei bewegen und meinem künstlerischen Herz folgen. Allerdings, um ehrlich zu sein, wenn ich meinem Bauchgefühl folgen würde, würde ich dem Weg, den ich mit VERVAIN eingeschlagen habe, gerne weiter folgen. Ich habe mit der Produktion von VERVAIN einige neue Facetten „in mir“ als Sängerin entdeckt. Ich finde es unheimlich erfrischend, neue musikalische Fähigkeiten auszuprobieren, zu perfektionieren und meine Stimmbänder anders einzusetzen. Eigentlich singe ich ja mein ganzes Leben lang und ich hatte immer das Gefühl, das die Musik mein Weg ist, obwohl ich das Singen nie gelernt oder studiert habe. Ich durfte mich immer in meinem eigenen Tempo entwickeln und meine Vision, mein Traum ist wahr geworden, gemeinsam mit Alex und Tosso – mein Dreamteam, und mit meinen Fans, denen ich ewig dankbar bin! Ich habe die beiden Dinge in meinem Leben erreicht, von denen ich schon ganz früh geträumt habe: meine eigene Familie zu haben und Sängerin bzw. Künstlerin zu sein. Ich will ja immer Vollgas geben und jeden Moment mit meinen Fans bewusst wahrnehmen. DAS macht mich reich, das gibt mir unheimlich viel Lebensfreude! Ich habe noch ganz viel vor.
Du hast die unterschiedlichsten Ausflüge in die verschiedensten Musikrichtungen gemacht und dabei mit allerlei Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet. Gibt es trotzdem noch etwas, das Du unbedingt machen möchtest, was man so vielleicht überhaupt noch nicht von Dir gehört hat?
Darf ich es sagen? Mit Kate Bush zu arbeiten. Mit Ozzy auf einer Bühne zu stehen. Ich würde gerne eine Musikschule oder Tagesstätte aufmachen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Denn Musik kann heilen. Es soll ein kreativer Ort sein, zum Lernen und um sich selbst zu finden.
Deine erste Solo Platte mit dem Titel „Deus Ex Machina“ erschien 1998. Hörst Du die Platte gelegentlich noch und wie schätzt Du selbst Dein Erstlingswerk von deinem heutigen Standpunkt aus betrachtet ein?
Ich würde eher sagen, ich spiele manche Lieder davon sehr gerne live. Sie sind sehr atmosphärisch und gut komponiert. Allerdings hat es viele Jahre gedauert, bis „Enter My Religion“, mein zweites Album, veröffentlicht wurde. Dazwischen lag eine sehr schlimme und ungerechte Gerichtsverhandlung. Als „Enter My Religion“ rauskam, begann ein neues Kapitel für mich. Ich war befreit von alten Verträgen und Erniedrigungen und das Beste von allem: ich war Mama geworden!
Hier möchte ich Dir die Möglichkeit geben, Deinen Fans und solchen, die es erst noch werden sollen, ein paar eigene Worte zu hinterlassen. Z.B. was sie auf Deinem neuen Album erwartet oder warum sie unbedingt eines Deiner nächsten Konzerte besuchen sollten.
VERVAIN ist eine Reise durch Licht und Dunkelheit, den menschlichen Instinkt, Gefühle und Vernunft. In meinem Songtext zum Titellied geht es auch darum, wie Liebe als das größte Gefühl aller Gefühle wie ein Instinkt entstehen kann, aber gleichzeitig bitter „schmecken“ kann. Das Unerwartete, das Gegensätzliche, Dunkelheit versus Licht, Instinkt versus Gesetz und konventionelle Erwartungen hat mich schon immer fasziniert. In meiner Kunst kann und darf ich beides sein, Poet und Philosoph. Diese Freiheit finde ich großartig. Dazu kommt noch ein Hauch spirituelle Wahrnehmung, denn auch ich wachse und entwickle mich auf Basis meinen Erfahrungen in der Kunst und im sonstigen „Alltag“. Mein Album nehme ich natürlich mit auf Tour. Auf der Setliste stehen Lieder aus meiner ganzen Solokarriere, auch von Theatre of Tragedy. Es ist eine Reise durch meine ganze Musikgeschichte, außerdem kann ich euch versprechen, dass ein paar sehr interessante Gäste dabei sein werden.
Normalerweise ist das immer der Abschluss meiner Interviews. Dir möchte ich allerdings noch eine zusätzliche Frage stellen, die mir seit Jahren auf der Seele brennt. Dein Mann hat eine der längsten Haarprachten, die man so auf den Metalbühnen bewundern kann, vor allem wenn man die Körpergröße von Alex noch berücksichtigt. Wie lange zum Teufel braucht man nach einem Konzert, um diese Menge von Haaren wieder durchzukämmen und wie oft braucht er dabei Deine Unterstützung? Wie viele Stunden hast du schon mit dem Kämmen der Haare deines Mannes verbracht?
Ich bewundere seine Haare…es heißt aber auch viel „Arbeit“. Bei uns ist es tatsächlich so, dass ich im Auto warte bis Alex seine Haare fertig gekämmt hat. Nach besonders heißen Gigs kann es schon eine Stunde dauern, bis Alex‘ Haare von Knoten befreit sind. Dann muss der Nightliner eben ein Momentchen warten, hehe.
Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für die Beantwortung meiner Fragen genommen hast. Ich hoffe, dass ich irgendwann einmal die Möglichkeit habe, ein längeres Interview mit Dir von Angesicht zu Angesicht führen zu können.
Gern geschehen – die Freude war ganz meinerseits!