Bruce Dickinson ist nicht als Mann weniger und bescheidener Worte bekannt, doch selbst für seine Verhältnisse waren die Ankündigungen im Vorfeld von „Senjutsu“ gewaltig. Es würden Dinge passieren, die man von IRON MAIDEN nicht erwartet hätte, und – „Senjutsu“ sei besser als „Book of Souls“. Ersteres klingt aus seinem Mund ein bisschen wie eine Drohung (wer sein Soloalbum „Balls To Picasso“ kennt, weiß eventuell, warum) und zweiteres zu schön um wahr zu sein. Darüber hinaus könnte man es als Floskel abtun, hätte der sonst so zurückhaltende Producer Kevin Shirley nicht noch einen draufgesetzt und „Senjutsu“ zum besten Album gekürt, dass er je mit der Band produziert hätte.
Der erste Song, „Senjutsu“, beginnt mit militärisch anmutenden Tribal-Drums. Dieses wuchtige, archaische Feeling bestimmt den Song. Nicko McBrain variiert den Rhythmus immer wieder und verleiht damit „Senjutsu“ eine hypnotische Sogwirkung, lässt ihn sich im Midtempo in die Gehörgänge schleppen. Dickinsons Gesang bleibt über weite Strecken zweistimmig, wobei das untere Stimmregister dominant im Vordergrund tönt. Ein ebenso ungewöhnlicher wie grandioser erster Song. Wenn das eine der angekündigten Überraschungen war, dann ist sie gelungen. Und wenn mich meine Onlinerecherchen nicht aufs Glatteis geführt haben, ist eine von vielen Möglichen des japanischen Senjutsu „Strategie“, und „Stratego“ heißt dann auch das erste Stück des Albums, welches das Gaspedal schon mehr in Richtung alter Gefilde drückt und als zweite Single ausgekoppelt wurde. Der Refrain ist ergreifend und eingängig, im Gegensatz zu manchen früheren Singles aber so gar nicht auf Mitsingtauglichkeit ausgelegt. Doch was kümmert es, bis zur Livepremiere wird die Menge zweifellos ebenso textsicher sein wie bei der ersten Single „The Writing On The Wall“, deren Ankündigung ebenso kryptisch wie unerwartet war, eine Einladung zu „Belshazar‘s Feast“. In der biblischen Mythologie ist Belšazar der letzte König von Babylon. Während eines Festmahls erscheint eine Schrift an der Wand, die niemand seiner Gelehrten deuten kann. Der Prophet Daniel aus der Reihe der jüdischen Sklaven wird dazu gerufen. Er kann die Schrift deuten und verkündet Belšazar sein Ende und das seiner Herrschaft. Babylon fällt, wie alle Reiche. Der Song beginnt akustisch und folkig und behält diesen Vibe auch, wenn die verzerrten Gitarren hereinbrechen. Manche sprachen in ihren Reaktionen gar von „Country“, was Adrian Smith schon von sich gewiesen hat mit dem Hinweis, dass „Folk“ letztlich wie andere Stile auch in den „Country“ eingeflossen sei. Allein das bombastische Video zum Song wäre eine Rezension wert gewesen. Wer noch nicht gesehen hat, wie Senjutsu-Eddie und seine Begleitung, die vier apokalyptischen Reiter Book-Of-Souls-Eddie, Powerslave-Eddie, Dance-Of-Death-Eddie und Somewhere-In-Time-Eddie, auf ihren Motorrädern Babylon stürmen, die dekadente Meute niedermetzeln, Belšazar enthaupten, Adam und Eva aus seinen Klauen befreien und ihnen den erlösenden Apfel vom Baum der Erkenntnis reichen, sollte das unbedingt nachholen. Mythologie und Maidenwahnsinn par excellence, und auch wenn in mitteleuropäischen Gefilden Blasphemie kaum noch jemanden vom Baum holt, drängt sich mir die Frage auf, wie viele Herzinfarkte das Video wohl in den Biblebelts dieser Welt verursacht hat. Platte Provokation liegt der Band jedoch fern, einzig für die mannigfaltigen Bedeutungsebenen ist hier nicht der richtige Ort, und auch ohne sie zu kennen, macht es einfach Spaß. Mit „Lost In A Lost World“ folgt dann der erste Song, der an der Zehn-Minuten-Marke kratzt. An sich nichts Ungewöhnliches für IRON MAIDEN, doch das Intro ist es schon. So ruhig und balladesk haben sie noch keinen Song begonnen, nicht einmal „Prodigal Son“ oder „Journeyman“. Gerade über dieser ruhigen Instrumentierung kann Dickinson glänzen, zeigen sich die Nuancen, die das Alter seiner Stimme hinzugefügt hat. So sanft und dramatisch erzählt er die Geschichte einer vergangenen Nation im Angesicht ihres Untergangs. Über weite Strecken bleibt der Song instrumental und lässt den drei Gitarrengöttern Murray, Smith und Gers mehr als eine Gelegenheit, die Trickkiste bis zum Anschlag zu öffnen. IRON MAIDEN hatten schon im Vorfeld durchscheinen lassen, dass „Senjutsu“ noch progressiver werden würde. Mit „Lost In A Lost World“ lösen sie dieses Versprechen ein – nicht zum letzten Mal. Die ganz großen Momente hat „Senjutsu“ jedoch immer dann, wenn Dickinson das Ruder übernimmt. Und als er dann am Ende von „Lost In A Lost World“ dann säuselt
„Reaching for the skies, forever free
A sadness, that is proud
As the clouds all drift away now
until we meet again“
bekomme ich zum ersten, aber nicht zum letzten Mal feuchte Augen. „Days Of Future Past“ beginnt dann schon wieder wesentlich metallischer und kommt ohne große Umschweife zum ersten epischen Refrain und schießt schließlich nach knapp vier Minuten über die Zielgerade. Unglaublich, wie viel Song in so wenig Zeit passt. „The Time Machine“ wird mit einem typischen Janick-Gers-Intro eingeläutet, wie es schon viele der besten MAIDEN-Songs der 2000er geziert hat. Bruce Dickinson bekommt hier aufs Neue Gelegenheit zu beweisen, dass seine Stärke nicht einzig in seiner Stimmgewalt liegt, sondern mindestens ebenso in seiner Fähigkeit, Emotionen zu transportieren und mit seinem Gesang Geschichten zu erzählen. Musste er in ferner Vergangenheit bei den Aufnahmesessions zu „The Number Of The Beast“ dessen Intro noch wieder und wieder einsingen, bis er aus Frustation geneigt war, das Studio zu zertrümmern, weil Martin Birch ihm die Geschichte nicht abnahm, beherrscht er diese Erzählkunst im Alter wie kein Zweiter. Ebenso marschiert „The Time Machine“ dann auch wieder in eine progressivere Richtung. Wenn im MAIDEN-Universum von „Progressivität“ gesprochen wird, dann versteht es sich eigentlich von selbst, dass die Hörerschaft keine Opern und keine Mathematikorgien im Stile von Bands erwarten sollte, die sich heuer bewusst mit dem Label „Progressive Metal“ schmücken. IRON MAIDEN leben ihre Progressivität in ihrem eigenen Stil aus aufwühlenden Instrumentalparts, groovigen Taktwechseln und gelungenen Harmoniewechseln. Melancholisch und düster leiten eine einsam über Wellenrauschen schwebende E-Gitarre „Darkest Hour“ ein, in dem Dickinson in jener schon beschriebenen, einzigartigen Manier die Geschichte von der Sinnlosigkeit des Krieges erzählt, um dann in einem selbst für MAIDEN-Verhältnisse verdammt epischen Refrain zu münden.
„Here I sit, in a serenade of glory
Naked by the throne of kings
You sowed the wind, and now you reap the whirlwind
Before the dawn the darkest hour“
Und auch wenn es schwer zu glauben ist, enthält dieser Song eine der schönsten Gitarrensolopassagen, die IRON MAIDEN je auf Tonband gebannt haben. Wenn Gänsehaut Musik wäre, dann diese.
Die letzten drei Songs auf dem Album haben eine Sache gemeinsam: Sie sind allesamt überlange Epen aus der Feder von Bassist und Bandleader Steve Harris und damit die ultimativen Endgegner für all jene, die auf den letzten Metern noch auf knackig kurze Hitsingles gehofft hatten. Den Beginn macht „Death Of The Celts“, das nicht nur dem Titel nach in Richtung „The Clansman“ schielt. Augenzwinkernde Reminiszenzen an das eigene Lebenswerk sind bei IRON MAIDEN schon lange ein Bestandteil des Songwritings, aber dieser Song beweist, dass dies bei weitem nicht aus einem Mangel an Ideen und Kreativität herrührt. Dies beinhaltet natürlich auch einen tänzelnden Mittelpart, bei dem wohl die meisten Fans schon beim den Hören Janick Gers über die Bühne tanzen sehen. Alles, was ein großes MAIDEN-Epos braucht, fahren sie in diesem Song auch auf, das Wechselspiel der drei Gitarristen inklusive. Genau wie während „The Parchment“, dem längsten Song des Albums, sehe ich vor meinem geistigen Auge schon Steves schwarzen Akustikbass auf der Bühne stehen, wie er die musikalischen Themen einleitet, die sich durch den ganzen Song ziehen sollen und dabei immer weiter, aber nie bis zur Unkenntlichkeit, variiert werden. Anstatt keltisches gibt es hier orientalisch angehauchtes Flair. Auch das ist nichts Neues im MAIDEN-Universum, aber in dieser Umsetzung über jeden Zweifel erhaben.
„Hell On Earth“ schließlich ruft zunächst Erinnerungen an eine in ihrer Zeit oft verschriene und mit den Jahren immer mehr vergötterte Episode in der Diskographie wach, als Eddie mit gezücktem Blaster, in Gestalt eines Cyborgs durch die Häuserschluchten eines futuristischen Blade-Runner-Molochs rannte. Diese Gitarrenmelodien, diese Soli, diese Gesangsarrangements. Aber trotzdem ist keine Zeit für reine Nostalgie. War es bei den letzten Alben fast schon Tradition geworden, den Song, der am meisten herausstach, ans Ende zu setzen, ist es dieses Mal derjenige, der wie kein anderer alles das verbindet, was IRON MAIDEN in den letzten zwanzig Jahren ausgemacht.
Bei all der Begeisterung meinerseits ist mir eines klar: Wer den Weg, den IRON MAIDEN seit der Wiedervereinigung mit ihrem einzig wahren Frontmann, seit dem erlösenden „Brave New World“, eingeschlagen haben, emotional und musikalisch nicht mitgehen konnte, den wird Senjutsu nicht annähernd so sehr bewegen wie mich. Hier sind eben nicht mehr fünf aberwitzig talentierte Wilde Anfang zwanzig aus dem Londoner East End am Werk, sondern sechs in ihrer eigenen musikalischen Liga agierende lebensweise Männer über sechzig. Gerade im Falle von Nicko McBrain, der keines seiner unzähligen Toms und Becken allzu lange unbeachtet lassen kann, mag man kaum glauben, dass er nächstes Jahr 70 (!) Jahre alt wird. Sechs Leben als Musiker und Menschen gelebt, die wir nicht einmal erahnen können. „Senjutsu“ kann auch „Die Weisheit des Einsiedlers“ bedeuteten, und Einsiedlern gleich haben sich IRON MAIDEN über Wochen in den Guillaume-Tell-Studios in Paris getroffen, um dieses Album zum Leben zu erwecken, größtenteils live. Die Vertreter des Plattenlabels warteten ohne Einflussmöglichkeit und ohne die Erlaubnis, das Studio zu betreten, auf das fertige Produkt wie Sterbliche am Fuße des Olymp. An der Seite der Band dein Produzent, der mit all seinem technischem Know-How zu Seite steht und sie genau in das Soundgewand kleidet, das sie verdient. Kevin Shirley lässt wieder einmal allen seinen Kritiker, deren Ohren durch die Möglichkeiten kühler technischer Perfektion verdorben sind, Wasser auf ihre Mühlen laufen und sie im eisigen Regen stehen. Ganz getreu seiner Kunst präsentiert er die beste Liveband der Welt in all ihrer ungezügelten Spontanität und ausufernden Spielfreude. Eine weitere mögliche Übersetzung für „Senjutsu“ ist „Zauberei“, und Zauberern gleich brennen die Saitenhexer Murray, Smith und Gers ihre Melodien direkt in die Seelen aller ein, die gewillt sind, sich der Musik zu öffnen. Es ist unfassbar, wie eine Band gleichzeitig so reif und erfahren und dennoch so frisch und jung klingen kann. Vielleicht wäre die Metalwelt mit mehr Shirleys besser dran.
„Senjutsu“ hat den großen Worten im Vorfeld zum Trotz alle meine Erwartungen übertroffen. Ohne jeden Zweifel ist es das beste Maidenalbum, seit Dickinson und Smith zurückgekehrt sind, und selbst zwischen den unantastbaren Klassikern steht es ehrwürdig als primus inter pares. Wenn es ein Album von IRON MAIDEN gibt, das von sich behaupten darf, die Band in all ihren Facetten zu zeigen, dann ist es „Senjutsu“. Ein melancholischer Monolith erhabenen Edelstahls, wie ihn nur die Eisernen Jungfrauen zu schmieden vermochten. „Senjutsu“ kann auch „Das Geheimnis der Unsterblichkeit“ bedeuten. Unsterblich waren IRON MAIDEN schon vor diesem Album, und dieses Album wird seinen Teil dazu beitragen dass sich Menschen ihrer erinnern. Eine Band wie IRON MAIDEN gibt es kein zweites Mal, und eine Fanbase wie ihre auch nicht. So beende ich diese Review in dem beseelten Gefühl, dass Millionen Metalheads beim Hören dieses späten Meisterwerks die gleichen Tränen der Freude und Ergriffenheit überwältigen werden – because we are all „Blood Brothers“.